Liebe Gäste, geschätzte Mitarbeitende von Carbotech, lieber Klaus
Es ist ein bisschen die Frage, ob die Bilder, die da hängen, einen Text – meinen Text – überhaupt brauchen. Oder ob ihnen (und uns) in der Stille am wohlsten wäre. Betrachtung braucht ja eigentlich keine Worte. Überraschung, Verwunderung, Irritation stellen sich ein ohne Text. Schauen allein ist Intensität. Seit wir die Welt mit Suchmaschinen und Navigationsgeräten ansteuern, ist das Betrachten gefährdet. Wo ist das Ziel, wenn wir nicht wissen, was wir suchen? In solche Offenheit, behaupte ich, lotst uns Klaus Meyer, genauer: lotsen uns seine «Szenerien».
«Darf ich einfach reden?»
Vor einer Woche war ich in seinem Atelier, um die jüngsten Bilder im Original zu sehen. Wir kamen direkt zur Sache, das heisst: mitten ins Leben, in Erinnerungen auch, in einen Lebenslauf. «Darf ich einfach reden?» fragtest du, Klaus, und wer dich kennt, wird sich nicht wundern: Du hast viel zu erzählen: Über Licht, über Reisen und mehr. Griechenland ist aufgetaucht. Eine Sehnsuchtsdestination, zweite Heimat, Ort der Begeisterung über die Weite. Nur karge Inselgruppen und nur das mediterrane Licht haben sie dir so, wie du sie liebst, ins Gedächtnis brennen können.
Klaus Meyer streifte in unserer kurzweiligen Begegnung auch seinen beruflichen Werdegang. Seine Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, seine Neugierde und Empathie haben ihn zu einem Initiator und zu Vermittler werden lassen. Viele wissen es: Klaus Meyer hat sich exponiert unter anderem in der Basler Drogenpolitik der 1980er-Jahre. Saubere Spritzen bei Konsum unter Aufsicht: Die Unterstützung der Süchtigen in ihrem illegalen Konsum machten ihn und andere juristisch anfechtbar. Verantwortlich gegenüber der lokalen Politik, solidarisch mit den Jungen auf der Gasse: Das war eine Gratwanderung im Licht der Öffentlichkeit.Das Schaffen so nahe am Leben, so nahe am Tod hat geprägt. Von einer Suchtpräventionskampagne war’s nicht weit zur Gründung des Jugendkulturfestivals – wo wieder High und Low, eine Vision und jene, die sie umsetzten, an einen Tisch zu bringen waren.
«Dabeisein» war ein starkes, doppelt unterstrichenes Wort in unserem Austausch. Dabeisein, wo nicht nur Paragraphen angepasst werden, sondern wo Gesellschaft sich wirklich verändere. «Vorne stehen» in allem Respekt gegenüber denen, die «hinten» genauso wichtige Arbeit leisten. Wir redeten (Klaus redete!) über die Vergleichbarkeit dieses von Ups und Downs gezeichneten Lebenslaufs mit den Zeichnungen, die in den vergangenen Monaten entstanden sind: Es gehe immer um dasselbe. Es gehe darum, einen Raum für andere zu schaffen.
Vorne stehen
Und wieder steht Klaus Meyer ganz vorne. Nicht im Auftrag des Justiz- und Sicherheitsdepartements nun, sondern ganz und gar in eigener Mission. Er steht vorn, und am Blattrand entlässt er auch uns in einen Raum, dessen Dimensionen schwer zu vermessen sind. Da ist zuerst das Tal – es gibt kaum Anhaltspunkte, wie tief wir fallen könnten mit dem ersten Schritt. Zwischen «hier» und «vorn», und dem nächsten Hang ist die Distanz nicht abschätzbar. Da stehen wir und wissen nicht genau, was uns erwartet. Aber wir können nachvollziehen, wie den Künstler die Neugier juckte. Klein hat Landschaft angefangen, in einer Zufallsspur von Kohle auf Papier. Irgendwo war ein Weiss, das seine Umgebung zu dirigieren anfing. Volumen sind gewachsen, dunkle Zonen verstärken den kräuselnden Wolkenrand. Die Himmel sind bewegt, es leuchten Nebelmeere.
Wolken, Nebel, Berge: Das sind dankbare Motive für einen Autodidakten, der sich als Künstler Neuland und Freiheit erobert. Fantasie darf alles und muss sich nicht an geologische Richtigkeit halten. Klaus Meyer zeichnet ohne Vorlage. Er könnte durchaus in die Beliebigkeit driften. Doch er ist nicht naiv. Er weiss, dass die Kunst schon manches Wetterleuchten durchlaufen hat. Er kennt die glühenden Sonnenuntergänge eines William Turner. Wir teilen unseren Respekt vor den Landschaften aus dem Atelier der wütend-radikalen Miriam Cahn. Und er kann dem intelligenten Zauber verfallen, der gerade jetzt im Kunstmuseum | Gegenwart aus den Zeichnungen spricht von Tacita Dean.
Lieber Klaus, deine Kühnheit besteht aus meiner Sicht darin, dich von den anerkannt Grossen nicht einschüchtern zu lassen. Du stellst dich der Herausforderung, vor die ein Blatt zwischen Schwarz und Weiss dich immer stellt. Du weisst am Anfang nicht, ob und wie er du die Kräfte dirigieren kannst. Du musst herausfinden, wie es geht, dass aus Schwarz nicht Rauch wird – kein Katastrophenszenario! – und aus Weiss nicht einfach Leere. Ein Grossformat braucht Kraft, um kompliziert gewordene Windrichtungen und unberechenbare Abgründe zu meistern. Manche «Szenerie» beschäftigt dich über Wochen, manche ist in wenigen Stunden bereit. Ob ein Blatt deiner Fantasie Antwort gibt oder ob es sich verschliesst, Korrektur verlangt, ermüdet, kann lange offen sein.
In diesen Bildern ist viel Alleinsein drin. Da ist Melancholie, und diese vielleicht ist es am allermeisten, die aus dem bewegten Kohlestaub auch das Glück des Augenblicks freilegt. Das Auge übt, in die Bewegung des Papiers wächst Vertrauen, die Technik wird raffinierter. Ich habe ein Tuch gesehen im Atelier, das beim Verwischen einer Kontur sein eigenes Pigment hinterlässt. Da sind erst Ahnungen einer Farbigkeit, aber der Horizont ist weit: Klaus Meyer (70) hat als Künstler erst angefangen.
Das grösste Kompliment, das ihm für diese Werke gemacht worden sei, war: «Es hat Platz da drin für mich.»
Ich wünsche den Bildern, die bei Carbotech Gastrecht geniessen, dass sie solchen «Platz für mich» anbieten – wer immer da gesprochen hat und noch spricht oder denkt. Dass sie im Alltag das zielorientierte Schauen unterbrechen und die innere Weite berühren, auf die wir immer und bleibend angewiesen sind.
Isabel Zürcher, 16. September 2021